Die
Theorie von James
Im
Alltag sind wir der Auffassung, daß Emotionen zwar private,
anderen nicht zugängliche Ereignisse sind, sie sich aber über
körperliche "Symptome" nach außen hin mitteilen:
- Wer Angst hat, zittert.
- Wer wütend ist, dessen Gesicht läuft rot an.
- Wer überrascht ist, hält die Luft an.
- Wer traurig ist, hat schlaffe Gesichtsmuskeln oder weint.
- Wer fröhlich ist, lacht.
Diese
Beispiele deuten schon an, daß wir normalerweise davon ausgehen,
daß das Emotionserleben bestimmte körperliche Veränderungen
bewirkt: Das Zittern ist eine Folge der Angst, nicht umgekehrt.
Sicherlich gibt es auch Ausnahmen, etwa wenn wir sagen: "Weil
du mich gekitzelt hast und ich so viel lachen mußte, bin ich
ganz fröhlich geworden." oder "Durch das ganze Zwiebelschneiden
wird man ja ganz traurig."
Aber
im großen und ganzen gehen wir schon davon aus, daß
das Emotionserleben das Ausschlaggebende ist, nicht die körperlichen
Veränderungen. Im Gegensatz dazu meint nun der Philosoph und
Psychologe William James 1884, daß die körperlichen
Veränderungen den Emotionen vorangehen und daß Emotionen
nichts anderes als die Empfindungen dieser Veränderungen sind
("Ich bin traurig, weil ich weine").
Parallel
zu James entwickelte der Däne Carl Lange eine ähnliche
Theorie. Der einzige wichtige Unterschied: Lange geht davon aus,
daß vasomotorische Reaktionen (also Erweiterung und
Verengung der Blutgefäße und die damit einhergehende
unterschiedliche Versorgung der Organe mit Blut) für die Emotionsentstehung
verantwortlich sind, während James viszerale Reaktionen
(Herz, Lunge, Magen) als entscheidend ansieht. Wegen dieser Ähnlichkeit
spricht man häufig auch von der "James-Lange-Theorie".
Wir werden nur auf James' Theorie genauer eingehen.
Die
Theorie: Drei zentrale Annahmen
1.
Die bloße Wahrnehmung einer erregenden Tatsache ist hinreichende
Bedingung für das Auftreten körperlicher Veränderungen.
2. Diese Veränderungen sind emotionsspezifisch, und
wir sind in der Lage, sie differenziert und bewußt zu erleben.
3. Das bewußte Erleben (die Empfindung) der körperlichen
Veränderungen ist die Emotion.
Ein
Zitat soll die dritte Annahme ausschmücken:
"Wenn wir uns irgendeine starke Emotion vorstellen und dann
versuchen, von unserem Erleben alle Empfindungen ihrer körperlichen
Symptome abzuziehen, dann finden wir, daß wir nichts übrig
behalten (außer einem kalten neutralen Zustand intellektueller
Wahrnehmung)."
Die
Vielfalt der körperlichen Veränderungen ist also nach
James die Grundlage für unser reiches emotionales Erleben.
Bei Furcht empfinden wir z.B. das Zittern der Lippen, eine erhöhte
Herzrate, "Aufruhr in den Eingeweiden" etc.
Aufgrund
zweier Kritikpunkte revidierte James schon bald (1894) seine Theorie.
Die zwei resultierenden Veränderungen sind die folgenden:
a.
Während James in der frühen Fassung allgemein von körperlichen
Veränderungen sprach, also auch willkürliche motorische
Reaktionen (Handlungen, Mimik, Gestik) als relevant für die
Emotionsentstehung ansah, sieht er nun viszerale, also unwillkürliche
Reaktionen der Eingeweide als weitaus wichtiger an.
Er gab damit der Kritik nach, es gebe keine Emotionsspezifität
bei willkürlichen Reaktionen: Ein Davonlaufen vor einem Bär
könne zu Angst führen, dasselbe Davonlaufen vor einem
Regenschauer jedoch nicht.
b.
James ändert seine Theorie außerdem dahingehend, daß
nicht mehr die bloße Wahrnehmung eines Objektes eine emotionale
Reaktion auslöst, sondern die Bewertung der Gesamtsituation,
oder nach James "die Idee des lebenswichtigen Elements einer
Gesamtsituation".
Kritiker hatten nämlich darauf hingewiesen, daß die bloße
Wahrnehmung eines Gegenstandes nicht ausreichen kann, um eine Emotion
hervorzurufen: Die Wahrnehmung eines Bären löst keineswegs
immer körperliche Reaktionen aus, die zu Furcht führen,
z.B. dann nicht, wenn sich der Bär im Zoo hinter ein großen
Zaun befindet. Damit es zu einer Furchtreaktion kommen kann, muß
also also die Bewertung erfolgen, daß dieser Bär der
eigenen Person gefährlich werden kann.
James'
Theorie in der Zusammenfassung:
|
1.
Schritt |
2.
Schritt |
3.
Schritt |
Alltagsverständnis |
Wahrnehmung
einer erregenden Tatsache |
Emotion |
körperliche
Veränderungen |
Ursprüngliche
Fassung |
Wahrnehmung
einer erregenden Tatsache |
emotionsspezifsiche
körperliche Veränderungen |
Empfindung
der körperlichen Veränderungen = Emotion |
Präzisierte
Fassung |
Wahrnehmung
und Bewertung der Gesamtsituation |
emotionsspezifische
viszerale Veränderungen |
Empfindung
der viszeralen Veränderungen = Emotion |
Die
Kritik Cannons
Walter
Cannon kritisierte 1927 James' Theorie in fünf Punkten:
1.
Die vollständige Trennung der Eingeweide vom ZNS führt
zu keiner Veränderung emotionalen Verhaltens. Dies wurde
belegt durch einen entsprechenden Versuch an einer Hündin.
Es steht aber nicht direkt in Widerspruch zu James, weil dieser
ja nur Aussagen über das Emotionserleben, nicht aber über
Emotionsverhalten macht. Letzteres wäre nur bei Menschen testbar,
was aber ethische Probleme schafft...
2.
Dieselben viszeralen Veränderungen treten bei verschiedenen
emotionalen und auch bei nicht-emotionalen Zuständen auf.
Weil z.B. die gleichen Veränderungen sowohl bei Wut als auch
bei Frösteln auftreten, kann das Erleben einer bestimmten Emotion
nicht durch diese Veränderungen determiniert sein. Mit diesem
Kritikpunkt wird also die von James angenommene Emotionsspezifität
(siehe Annahme 2) in Frage gestellt.
3.
Die Eingeweide sind relativ unempfindliche Organe (d.h. sie
verfügen über wenig Rezeptoren etc.), so daß wir
wenig differenziert ihre Zustände wahrnehmen können.
4.
Viszerale Veränderungen sind zu langsam, um als Ursache
des Gefühlserlebnis infrage zu kommen. Nach Cannon beträgt
diese Latenz bis zu eine Sekunde, gesicherte Befunde liegen zu dieser
Frage jedoch nicht vor.
5.
Die künstliche Herbeiführung der von James postulierten
spezifischen viszeralen Veränderungen führt nicht zum
Auftreten dieser Emotionen. Dies wurde bestätigt durch
Maranon, auf den wir im nächsten Abschnitt eingehen werden.
Die
Fülle der Kritik erscheint überwältigend. Auch wenn
die meisten Kritikpunkte nicht eindeutig belegt sind, stellen sie
doch die Grundannahmen von James nachhaltig infrage. Wir enthalten
uns hier noch einer eindeutigen Wertung und betrachten lieber die
Weiterentwicklung der Ideen Cannons, die dann in die nächste
wichtige Theorie mündeten, nämlich in die von Schachter...
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