Die
Theorie von Hull
Die
Theorie von Clark Hull (1884-1952) ist zwar ähnlich umfangreich
wie die von Freud, jedoch bei weitem nicht so komplex. Obwohl Hull
stark vom Behaviorismus beeinflußt wurde, kann man ihn selbst
doch nur als "halben" Behavioristen (oder auch "Neobehavioristen")
bezeichnen. Er vermeidet zwar jegliche Annahmen über das Bewußtsein
oder subjektiv zugängliche innerpsychische Prozesse, aber dennoch
kommt er nicht mit den klassischen Reiz-Reaktions-Begriffen des
Behaviorismus aus, sondern postuliert eine Reihe von "intervenierenden
Variablen", also Prozessen zwischen Reiz und Reaktion (die
man sich irgendwie, nur nicht bewußtseinsmäßig
vorzustellen hat).
Die
Theorie
Hulls
Theorie besteht aus 17 Postulaten und 133 davon abgeleiteten Korollarien
und Theoremen. Aber keine Angst, die braucht man nicht alle zu wissen.
Zusammengefaßt ist die Theorie eigentlich sehr simpel:
Die Wahrscheinlichkeiten R, daß eine Person in einer bestimmten
Situation eine bestimmte Reaktion zeigt, hängt nach Hull im
wesentlichen von zwei intervenierenden Variablen ab, nämlich
vom Trieb D und der Gewohnheitsstärke H. Diese beiden Variablen
wirken multiplikativ
aufeinander (vgl. den Abschnitt zur experimentellen
Motivationsforschung). Wir können also schreiben:
R = D x H ("Verhaltensgleichung")
Nun müssen wir natürlich noch wissen, was Hull mit "Trieb"
und "Gewohnheitsstärke" meint.
Der
Trieb (D für "Drive") ist bei Hull die zentrale
Motivationsvariable. Ähnlich wie Freud nimmt auch Hull an,
daß sich der Trieb aus körperlichen Bedürfnissen
speist und alles Verhalten antreibt. Es gibt jedoch wichtige Unterschiede
zwischen Hull und Freud in dieser Frage:
Hull geht nur von einem einzigen Trieb aus, während Freud ja
immer zwei Triebe auf der Rechnung hatte. Nun ist es aber nicht
so, daß Hull leugnen würde, daß Menschen mehrere
(körperliche) Bedürfnisse hätten, z.B. nach Wasser,
Nahrung, Geschlechtsverkehr, Schlaf, Wärme etc. Doch nach Hull
fließen all diese sogenannten "primären Bedürfnisse"
zu einem einzigen Trieb zusammen, der das Verhalten (wie in der
obigen Gleichung beschrieben) antreibt.
Soll heißen: Wenn ich lange nichts gegessen habe und außerdem
lange nicht mehr geschlechtsverkehrt habe, ist es wahrscheinlicher,
daß ich mich (als Mann) auf eine vorübergehende Frau
stürzen werde, als wenn ich lediglich lange nicht mehr geschlechtsverkehrt
hätte.
Das Beispiel deutet schon an, wie sich nach Hull der Trieb eines
Menschen messen läßt: durch die Deprivationszeit, d.h.
die Zeit, die eines der oben genannten primären Bedürfnisse
nicht befriedigt worden ist. (Von "befriedigen" spricht
Hull freilich nicht!) Je größer die Deprivationszeit(en),
desto größer der Trieb.
Die
Gewohnheitsstärke (H für "Habit") bezeichnet
die Tendenz einer Person, auf einen bestimmten Reiz mit einer bestimmten
Reaktion zu reagieren. Während D also das Verhalten antreibt,
gibt ihm H die Richtung. Beides muß vorhanden sein (d.h. größer
als 0), damit es zu einer Verhaltensweise kommen kann.
Wie wird H gemessen bzw. definiert? Die Gewohnheitsstärke ist
um so größer, je häufiger dieselben Reiz-Reaktions-Verbindungen
verstärkt wurden, d.h. zu einer Bedürfnisbefriedigung
(Triebreduktion) führten. Die Menge der Belohnung bzw. der
Grad der Triebreduktion hat dagegen keinen Einfluß auf H.
Beispiel (bitte nicht zu ernst nehmen): Je häufiger ich beim
Anblick einer schönen Frau die Flirttaktik XY gewählt
habe und mit Geschlechtsverkehr belohnt wurde, desto größer
ist die Gewohnheitsstärke und somit die Wahrscheinlichkeit,
daß ich in Zukunft bei einer vorbeikommenden schönen
Frau wieder diese Flirttaktik anwenden werde. Ob der Sex eher gut
oder eher schlecht war, spielt dabei aber keine Rolle. (Hull würde
natürlich für Güte des Geschlechtsverkehrs nicht
etwa mich befragen, sondern ein objektives Maß wählen.
Welches das sein könnte, kann sich der Leser selbst ausmalen...)
Soweit
die Theorie. Wie hat Hull seine Hypothesen geprüft? An vorbeikommenden
schönen Frauen und sich auf sie stürzenden Hiwis? Nein,
an Ratten. Da hat es geklappt. Die Beschreibung dieser Experimente
wollen wir hier nicht nur uns, sondern auch der Leserschaft ersparen,
insbesondere den Tierfreunden darunter.
Modifikationen
Experimente
von L.P. Crespi veranlaßten Hull dazu, seine Theorie
zu erweitern. (Es zeigte sich, daß Ratten schneller laufen,
wenn die Futtermenge erhöht wird, d.h. der "Anreiz"
für sie steigt.) Er erweiterte die oben genannte Verhaltensgleichung
um den Anreiz K, so daß nun gilt:
R = D x H x K.
Unter "Anreiz" stellt man sich leicht subjektive Bewertungen
etc. vor. Hull meint damit natürlich nichts dergleichen. Der
Anreiz entspricht dem Ausmaß der Verstärkung, z.B. eben
der Futtermenge. Also macht es - um im obigen Beispiel zu bleiben
- doch einen Unterschied, ob der Sex gut war oder schlecht; dies
fließt aber nicht in H mit ein, sondern bildet eine unabhängige,
zweite Motivationsvariable (neben D).
Eine
weitere Modifikation von Hulls Theorie forcierte N.E. Miller
1948. Hull meinte ja ursprünglich, daß nur die Anwesenheit
eines Triebes Personen (oder Tiere) dazu bringt, R zu erhöhen,
also zu lernen. (Denn wenn kein Trieb vorliegt, also D=0 ist, ist
auch R=0.) In Millers Experimenten zeigte sich aber, daß Ratten
auch zum Lernen gebracht werden können, wenn sie Schmerzen
vermeiden wollen. Schmerzvermeidung (oder auch "Furcht")
gilt aber für Hull ursprünglich nicht als Trieb, weil
sie nicht deprivierbar ist., d.h. sie vergrößert sich
nicht über die Zeit.
Miller zeigte also mit seinen Experimenten, daß es so etwas
wie erlernte, sekundäre Triebe gibt. Die von Hull postulierte
Unabhängigkeit zwischen Trieb und Gewohnheitsstärke ist
somit infrage gestellt. Zur genaueren Erläuterung von Millers
Versuchen und Ergebnissen möge die Leserschaft Heckhausen
1989, S.98, oder Weiner 1984/88,
S.82-83, heranziehen.
Millers
Konfliktmodell
Am
Ende dieses Abschnitts wollen wir noch kurz auf Millers Konfliktmodell
zu sprechen kommen, einer der wichtigsten Theorien der neobehavioristischen
Triebtheoretiker. Miller stützt sich auf Kurt Lewin,
einem der wichtigsten Vorreiter der Motivationspsychologie. Lewin
stellte sich das Antizipieren einer Person von Anreizen und Bestrafungen
als Kräfte
vor, die auf die Person einwirken. Bei einem Konflikt wirken Kräfte
von gleicher Stärke und entgegengesetzter Richtung auf
die Person ein. Lewin unterschied drei
Konflikttypen:
-
Aufsuchen-Aufsuchen-Konflikt: Zwei alternative Objekte rufen
gleich starke Annäherungstendenzen hervor. (z.B. die Qual der
Wahl zwischen zwei Partys)
- Meiden-Meiden-Konflikt: Zwei alternative Objekte rufen
gleich starke vermeidende Reaktionstendenzen hervor. (z.B. Unlust,
auf die Party zu gehen, aber auch Unlust, sich zu Hause zu langweilen)
- Aufsuchen-Meiden-Konflikt: Das gleiche Objekt (oder Ereignis
etc.) ruft unvereinbare Reaktionstendenzen gleicher Stärker
hervor. (z.B. Angst und Freude auf das Rendezvous; Neugier und Furcht
vor der heißen Herdplatte)
Eine
sich im Konflikt befindliche Person zeigt nach Lewin Angst und das
Unvermögen, eine Lösung zu finden. Bildlich gesprochen
verharrt es irgendwo auf halber Strecke zwischen den Konfliktpolen.
Direkt zu beobachten ist dies vor allem bei Kindern: Geht es darum,
ein fremdes Tier zu streicheln, traut sich das neugierige Kind so
weit heran, bis die Angst zu groß wird und es daraufhin wieder
zurückweicht. Wenn wieder die Neugier die Angst überwiegt,
geht es von vorne los. Meist ist ein gut zuredendes Elternteil nötig,
damit das Kind irgendwann tatsächlich beim Tier ankommt...
Nun
stellt sich aber die Frage, wo genau dieser Konfliktpunkt liegt.
Im Beispiel: Wie weit wagt sich das Kind an das Tier heran? Es ist
doch zu erwarten, daß nicht nur die Angst steigt, wenn es
ihm näher kommt, sondern auch
die Neugier. Warum sollte das Kind dann an einem bestimmten Punkt
zum Stillstand kommen?
Miller arbeitete genau diese Frage weiter aus. Experimente hatten
ergeben, daß mit Abnehmen des Zielabstands die Aufsuche- bzw.
Meidetendenz tatsächlich steigt: Ratten laufen kurz vor dem
Erreichen des Freßnapfes besonders schnell, und auch aus der
Alltagserfahrung heraus erscheint uns diese Überlegung plausibel,
z.B. ängstigt man sich einen Tag vor der Prüfung in der
Regel mehr als drei Wochen zuvor.
Aufgrund der empirischen Ergebnisse stellte Miller nun die Hypothese
auf, daß die Meidetendenz in einem Konflikt bei zunehmender
Zielnähe stärker ansteigt als die Aufsuchetendenz,
in Fachbegriffen: "Der Vermeidungsgradient ist steiler als
der Annäherungsgradient."
Entsprechend
lauten die fünf Hypothesen Millers aus dem Jahre 1951 folgendermaßen:
(1) Die Annäherungstendenz ist um so stärker, je näher
der Organismus dem Ziel ist.
(2) Die Vermeidungstendenz ist um so stärker, je näher
der Organismus dem Ziel ist.
(3) Der Vermeidungsgradient ist steiler als der Annäherungsgradient.
(4) Je stärker die das Annäherungs- und Vermeidungsverhalten
motivierenden Triebe sind, desto größer ist die Höhe
des jeweiligen Gradienten.
(5) Die Nettotendenz, das Ziel zu erreichen, ist die Differenz der
beiden Tendenzen.
Die
ersten drei Hypothesen haben wir eben besprochen. Die vierte besagt,
daß der Annäherungs- und Vermeidungsgradient abhängig
ist von den zugrunde liegenden Triebstärken. Ist beispielsweise
der Hunger eines Tieres besonders groß, drängt es besonders
stark zum Futterplatz, und immer heftiger, je näher es dem
Futter kommt.
Die Vermeidungstendenz ist aber nur, wie wir im vorigen Abschnitt
sahen, indirekt triebgesteuert; sie muß erst situationsspezifisch
gelernt werden. Gerade dadurch wird aber die dirtte Hypothese plausibel,
nämlich daß der Vermeidungsgradient immer
größer ist als der Annäherungsgradient: Der erworbene
Trieb bei der Vermeidungstendenz ist an den äußeren Reiz
gebunden, während der primäre Trieb bei der Annäherungstendenz
von innen kommt und daher in der Nähe des Ziels nur wenig größer
wird.
Im
Beispiel: Wenn das Kind dem fremden Tier näher kommt, erscheint
dieses immer bedrohlicher, immer größer, immer gefährlicher.
Die Furcht nimmt sprungartig zu. Die Neugier beim Näherkommen
dagegen bleibt in etwa so wie sie war bzw. nimmt nur leicht zu.
An der Steigung der beiden Geraden in der bekannten Abbildung (Skript
von Prof. Funke, Folie 81; auch im Heckhausen) kann man also kaum
etwas ändern - wohl aber an deren Verschiebung auf der x-Achse.
Gelingt es, den Vermeidungsgradienten "nach unten zu verschieben",
also die Vermeidungstendenz ingesamt zu verringern, dann wandert
auch der Schnittpunkt E weiter nach links, in Richung y-Achse, d.h.
zum Ziel. Ebenso kann versucht werden, die Annäherungstendenz
zu vergrößern (z.B. größerer Hunger, s.o.),
so daß der Annäherungsgradient "nach oben verschoben
wird" und E ebenfalls in Richtung Ziel wandert.
Diese Hypothesen konnte Miller in Studien mit Ratten relativ gut
bestätigen.
Sogleich
geht es weiter mit einem kritischen Resümee der Theorien von
Freud und Hull.
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