(6) Schuldmindernde und schuldbegründende Faktoren der (Un-)Integritätsbewertung

Die beiden Basiskomponenten lassen sich als notwendige, nicht aber hinreichende Komponenten des Unintegritätsurteils auffassen. Entsprechend wurde ein Modell entwickelt, das neben der Tatbestandsmäßigkeit (objektive und subjektive Tatbestandsmerkmale) auch die Rechtswidrigkeit und Vorwerfbarkeit der betreffenden Handlung sowie die Zuweisung eines Strafmaßes berücksichtigt. Diese Komponenten des moralischen Urteils wurden als eigenständige und aufeinander aufbauende Wertungsstufen mit jeweils gesonderten Prüfschritten konzeptualisiert. Die Brauchbarkeit dieses Modells wurde inhaltsanalytisch geprüft. Dabei konnte explorativ gezeigt werden (vgl. Nüse, Groeben & Gauler 1991), daß für die Bewertung argumentativer Sprechhandlungen neben deren Tatbestandsmäßigkeit auch situative Kontextfaktoren wie ‘Entschuldigungen’, ‘Rechtfertigungen’, ‘Tatbestandsmodifikationen’ und ‘unthematische Wertvorstellungen’ einen schuldmindernden bzw. -begründenden Einfluß haben. Das bedeutet, daß dieselbe tatbestandsmäßige Handlung in Abhängigkeit von verschiedenen Kontextfaktoren unterschiedlich moralisch bewertet werden kann (Nüse, Groeben, Christmann & Gauler 1993).

Vor diesem Hintergrund stellt sich als nächstes die Frage, ob und in welcher Weise das Vorliegen bzw. Fehlen ausgewählter Kontextinformationen zu einer Änderung der (Un-)Integritätsbewertung führen. Dazu haben wir drei empirisch-experimentelle Untersuchungen mit 2X4X2-Prä-Post-Designs durchgeführt. Dabei wurden nach einer ersten Beurteilung von Argumentationsepisoden entsprechende Zusatzinformationen dargeboten und hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Unintegritätsbewertung untersucht. Folgende Variablenklassen sind dabei thematisch: Eintreten intendierter negativer Effekte vs kein Eintreten dieser Effekte, hohe vs geringe Häufigkeit unintegren Argumentierens, Korrektur der unintegren Äußerung vs keine Korrektur (Studie 1; Sladek, Christmann & Groeben 1996); hohe vs niedrige emotionale Belastung, hohe vs niedrige intellektuelle Fähigkeiten und argumentative Kompetenz (Studie 2; Sladek, Groeben, Christmann & Mlynski 1996); öffentlicher vs privater Diskussionsrahmen; vorbereitetes vs spontanes Gespräch; inhaltliche Rechtfertigung des unintegren Sprechakts vs keine Rechtfertigung (Studie 3; Sladek, Mlynski, Groeben & Christmann 1996). Mitberücksichtigt (und statistisch kontrolliert) wurden außerdem auch die (passiv argumentativ-rhetorischen) Kompetenzen der urteilenden Personen sowie ihre übergreifenden ethikbezogenen Einstellungen. Nach den Ergebnissen können folgende Bedingungen als schuldmindernde (signifikant häufigere Zurückstufung von Schuldurteilen zu Unrechtsurteilen, die nicht mit einem persönlichen Vorwurf verbunden sind) gelten: Korrektur der unintegren Äußerung durch den/die relevante/n Sprecher/in; geringe Häufigkeit unintegrer Argumente (‘einmaliger Ausrutscher’); weiterreichende gute Absichten des/der relevanten Sprechers/in; niedrige intellektuelle Fähigkeiten und geringe argumentative Kompetenz (tendenzielle Bestätigung); unvorbereitete, spontane Argumentation; inhaltliche Rechtfertigung des unintegren Sprechakts. Als schuldbegründend (signifikanter Anstieg von Unintegritätsurteilen gegenüber der Erstbewertung) haben sich erwiesen: Eintreten intendierter negativer Effekte; keine Korrektur der unintegren Äußerung; hohe Häufigkeit von argumentativen Regelverletzungen (tendenzielle Bestätigung); hohe intellektuelle Fähigkeiten und argumentative Kompetenz des/der Sprechers/in; weiterreichende schlechte Absichten des/der Sprechers/in. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, daß Unintegritätsbewertungen zunächst auf der Grundlage der beiden Basiskomponenten ‘Schwere einer argumentativen Regelverletzung’ und ‘Grad der Bewußtheit bei der Herbeiführung einer Regelverletzung’ gefällt werden (hier: Ersturteile). Werden hingegen Kontextinformationen wie die hier überprüften salient, dann können sie das Gewicht der (Un-) Integritätsbewertung in schuldmindernder bzw. schuldbegründender Weise modifizieren.

Publikationen

Nüse, R., Groeben, N., Christmann, U. & Gauler, E. (1993). Schuldmindernde vs. -begründende Zusatzattributionen in moralischen Handlungsbeurteilungen. Gruppendynamik 24(2), 165-198.

Christmann, U., Sladek, U. & Groeben, N. (1998). Der Einfluß personaler und interaktiver Kontextinformationen auf die Diagnose und Bewertung argumentativer (Un-)Integrität. Sprache & Kognition. (3), 107-124.

Christmann, U., Mischo, C., & Groeben, N. (2000). Components of the evaluation of integrity violations in argumentative discussions: Relevant factors and their relationships. Jour­nal of Language and Social Psychology. 19 (3), 315-341.

 

Berichte des SFB 245

Sladek, U., Christmann, U. & Groeben, N. (1996). Argumentationsintegrität (XVI): Der Einfluß personaler und interaktiver Bedingungen auf die Bewertung argumentativer (Un-)Integrität. Bericht Nr. 95. (86 S.).

Sladek, U., Groeben, N., Christmann, U. & Mlynski, G. (1996). Argumentationsintegrität (XVII): Der Einfluß personenbezogener Entschuldigungsgründe auf die Bewertung argumentativer (Un-)Integrität. Bericht Nr. 96. (68 S.).

Sladek, U., Mlynski, G., Groeben, N. & Christmann, U. (1996). Argumentationsintegrität (XXI): Der Einfluß situativer Rahmenbedingungen auf die Bewertung argumentativer (Un-)Integrität. Bericht Nr. 100. (58 S.).

 


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